Karfreitag

Die Karwoche erinnert mich immer sehr an meine katholische Kindheit in der atheistisch-protestantischen Diaspora der Liebfrauen Gemeinde Leipzig-Lindenau.

Meine Mutter hatte recht melancholische Anwandlungen – Grund genug gabs dafür – und die ließen sich am besten in der Karwoche ritualisieren. Ich war hin und wieder auch ganz gern traurig als Kind, vor allem wenn die Anlässe nicht direkt mit mir zu tun hatten. Also: Die Abwesenheit eines Fahrrades war nicht für diese Art von melancholischer Anwandlung geeignet. Es war mehr so ein allgemeines Stimmungstrauergefühl – mehr „traulich“, als traurig.

Es gab in der Karwoche soviel an rituellen Handlungen. Die Fußwaschung am Gründonnerstag war nicht so interessant. Wenn ich es recht überlege, war sie mir eher peinlich. Ich dachte immer daran, ob die dort mit nackten Füßen Sitzenden sich vorher die Füße wohl gewaschen hätten, ob das nicht auch kitzlig ist, ob der Pfarrer, den ich übrigens sehr gern mochte, nicht auch lachen muss. Heute würde ich noch darüber nachsinnen, ob ihm nicht die Knie wehtun, beim dauernden Hinknien, Waschen und Wieder aufstehen. Wie eine betagte Waschfrau kam er mir dann vor. Er war auch meine ganze Kindheit lang immer alt, der Pfarrer Gunkel, aber ein sehr lieber Mensch. Manchmal auch ein bisschen Vaterersatz. Er kannte meiner Mutter Leben, ihre Inhaftierung und hatte selbst in der Nazizeit Juden und anderen Verfolgten geholfen.

Peinliche Augenblicke und Anwandlungen hatte ich in der gesamten Passionszeit, aber die waren auf der anderen Seite auch ganz interessant und faszinierend. Wenn sich in der Karfreitagsliturgie, die sich über viele Stunden erstreckten, die drei Kapläne der Liebfrauengemeinde erst einmal komplett auf den Boden warfen.   Wenn sie – mit ihren zwar liturgisches Singen gewohnten, aber nicht immer wohlklingenden überforderten Stimmen – die Passion sangen, wirkten sie überfordert. Ich erinnere mich an das krächzende Falsett einer Passage.

Die einzige Stelle, in der einmal der Chor mitsang war „Hinweg, hinweg ans Kreuz mit ihm. Und dann kam die ellenlangen Großen Fürbitten. Von ihnen weiß ich heute, dass sie wegen der Bitte um die Bekehrung der Juden in der Kritik der reformerischen Katholiken steht. Damals aber fand ich die ständigen Aufforderungen: Flectamus genua und dann … nach entsprechender Weile …. Levate wenigstens kurzweilig.

Auch heute noch fände ich manche Fürbitten auch durchaus angebracht, eigentlich dringend notwendig, wenn ich nicht mit dem Adressaten haderte, bzw. an dessen Vorhandensein ich damals wenigstens (noch) glaubte.

Diese hier z. B. ist doch sehr dringlich.

Für die Regierungen der Völker

Oremus et pro omnibus res publicas moderantibus eorumque ministeriis et potestatibus: ut Deus et Dominus noster mentes et corda eorum secundum voluntatem suam dirigat ad nostram perpetuam pacem.
Oremus.
Flectamus genua.
Levate.

(Lasset uns auch beten für alle Lenker der Staaten und für ihre Minister und Gewalthaber: daß Gott der Herr ihnen Herz und Sinn seinem Willen gemäß leite zu unserem immerwährenden Frieden.

Lasset uns beten.
Beuget die Knie.
Erhebet euch.)

Und dann folgte eine langandauernde Prozession der Gemeindemitglieder zum Kreuz, wo alle die Füße des Gekreuzigten küssten. Ich weiß gar nicht, ob es diese Sitte noch heute gibt. Auch das war Bewegung. Und Gelegenheit nach einem Ministranten zu sehen, der mir so gefiel. Der stand der Gemeinde zugewandt. Es ist ja reichlich unhygienisch, dieses Massenküssen auf die gleiche Stelle. Damals beschäftigte mich das weniger.

In der Karwoche wird

Es körperlich

Ich mochte die kirchlichen Feiertage immer gern, aber die Karwoche hatte was besonderes eindringliches. Heute ist mir klar, woher das kam: Es wird in der Karfreitagswoche sehr „körperlich“. Seltsamerweise ist es in der Weihnachtszeit, wo ja immer hin ein Geburtsvorgang“ gefeiert wird, viel weniger Körperlichkeit im Spiel.

Die Geburt eines gar nicht irdisch-konkret gezeugten Kindes ist nicht mit der Biologie verbunden, hat wenig Bezug zu einem wirklich biologischen Vorgang. Niemand käme –   nebenher- auf die Idee, in der Weihnachtsgeschichte eine gebärende Mutter Maria mit Wehen, Blut und Geschrei darzustellen. Das ist doch seltsam, nicht wahr?

Die Leiden eines Menschen mit Blut, Schweiß und Tränen“ – das ist irdisch und darf dargestellt werden. Geburt nicht, aber Tod in genußvoller Ausschmückung. Nunja. Vielleicht hängt ja damit alles zusammen, was so im christlichen Abendland ist und war. Nach der Liturgie trafen sich die Kinder vor der Kirche und wir alberten noch eine Weile herum. Und dann ging man nach Hause.

Am Ostersonntag war Hochamt. In die Osternacht gingen wir nie. Und auch in die Ostermontagsmesse ging meine Mutter allein.

Die Kirchenfeste wiederholen sich jedes Jahr – die Kindheit nicht.

 

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11 Antworten zu Karfreitag

  1. justrecently schreibt:

    Die Kirchenfeste wiederholen sich jedes Jahr

    Nicht zu reden von den Gottesdiensten in anderer Gestalt: La-Ola im Fußballstadion.

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  2. dame.von.welt schreibt:

    In der Karwoche werden auch gläubige Evangelische katholisch. In der katholischen Kirche ist das Kreuz mit gequältem Folteropfer obligat, in der evangelischen meist eher das reine Symbol.
    Außer an Karfreitag, da herrscht religiöser Sado-Masochismus allerorten. Ich erinnere als Kind ausgeprägte Karfreitagsdepression, die nur selten von einer Ostersonntagsfreude aufgewogen werden konnte. Kommt eigentlich Paul Gerhardts Geh aus mein Herz und suhuhuche Freud in katholischen Ostersonntagsgottesdiensten vor? Mochte ich sehr.

    Wobei ich damit rein gar nichts gegen Katholiken gesagt haben will – schließlich pflegen die so prächtige Bräuche wie das Heilige Grab und die Semana Santa.

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    • madge1946 schreibt:

      Ja, ein bisschen religiöser SM war das schon. Aber, doch ganz faszinierend. Vor allem, weil ich noch nicht wusste, was daran nun eigentlich halb peinlich und halb… usw. war.
      Paul Gerhardts Lied kenne ich, aber im Hochamt habe ich das nicht gehört.
      Die Semana Santa – furchtbar, aber auch faszinierend. Darüber gibts ganz interessante youtube-Beiträge. Danke für den Link.
      Ach und der Grabesbeitrag von der Schachnerin beim Freitag.

      Ein frohes Osterfest wünsche ich auch noch. Jetzt schreibe ich noch als nächstes über die verschiedenen Meinungen zu Jesus. Dann ist meine christliche Reminiszenz auch erschöpft. Ich bin ja schon so lange nicht mehr katholisch.

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      • Ludger Verst schreibt:

        Sie schreiben in einer sehr ansprechenden, ja, mich faszinierenden Art über Ihre Erinnerungen an das Katholische in Ihrem Leben, auch und gerade weil Sie „schon so lange nicht mehr katholisch“ sind: beeindruckend, wie nachhaltig diese Prägungen sind und wie sie bei aller Systemkritik auch etwas Beheimatendes bewahren.

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    • Diander schreibt:

      Im katholischen Bayern aufgewachsen, war ich auch Teil der atheistisch-protestantischen Diaspora (mein Lateinlehrer, gleichzeitig katholischer Religionslehrer nannte mich immer die „Ketzerin“, was mich tief traf, ohne mit 10 Jahren genau zu wissen, welche Art von Beschimpfung das genau sein sollte). Egal wie atheistisch die Kindheit war, am Karfreitag gab`s immer fleischlos. Des is hoid aso. Wird auch immer noch weiter praktiziert, morgen gibt`s traditionell Kässpatzn. Aber nur, weil sie eh schmecken.
      Grüßle, Diander

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    • justrecently schreibt:

      Frömmigkeit ist das einzige Laster, das hemmungslos & unwidersprochen ausgelebt werden darf (der IBKA spielt keine Rolle).

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      • madge1946 schreibt:

        Für mich gibts auch noch einen Unterschied zwischen Frömmigkeit und Frömmelei. Aber, stimmt schon so im Prinzip. Ach, da gibts eine richtige Bewegung? Toll.
        Übrigens, wie verlinkt man denn in Kommentaren? Das habe ich noch nie gemacht.

        Hier ein Probelinkk Altpapier

        Na, das ist doch super 🙂

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      • dame.von.welt schreibt:

        Es gibt jede Menge Laster inklusive kollektivem Wahn, die hemmungslos & unwidersprochen ausgelebt werden dürfen – denken Sie bloß an Fußball-> https://twitter.com/Sternenrot/status/853207332863578112

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      • justrecently schreibt:

        denken Sie bloß an Fußball
        Früher mal wurde dem Fußball widersprochen, wenn wir ihn sonntags spielten – aus Frömmigkeitsgründen. Ansonsten wüsste ich nicht, welchen Aspekten am Fußball man widersprechen müsste.
        Ein anderes Ding wäre die Fankultur – aber was macht Sie so sicher, dass die nicht religiös ist?

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      • justrecently schreibt:

        P. S.: einer von den Pissern hat sich die Mütze ganz tief ins Gesicht gezogen. Offensichtlich möchte er nicht, dass Mutti ihn auf dem Bild wiedererkennt. Gar so widerspruchsfrei ist der kollektive Wahn eben doch nur, bis man wieder nach Hause kommt.

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  3. dame.von.welt schreibt:

    Verlinkung in Kommentaren geht ganz leicht mit HTML-Befehlen – Sie könnten aber auch von Ihren Admin-Privilegien Gebrauch machen und Ihre eigenen Kommentare gleich nach dem Senden bearbeiten, in der Bearbeitungsmaske findet sich oben alles zum Verlinken, fett und kursiv setzen, durchstreichen usw.usw.

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